Mit ein wenig Namedropping (siehe Season 1, Tag 8 – The Hafler Trio) habe ich vermutlich schon angedeutet, dass ich sehr gerne sehr »abstrakten« Klängen lausche. Schon in meiner Zeit kurz nach dem Zivildienst, als ich noch in der Behinderteneinrichtung weiterarbeitete, labelte eine ältere Kollegin meine Musik als »amorph«. Trotzdem habe ich »abstrakt« bewusst in Anführungszeichen geschrieben, weil es eigentlich irreführend ist – »Konkrete Kunst« etwa hat für mich mit »Musique Concrète« wenig gemein, so wie (jüngste Lernkurve) der »Brutalismus« als Architekturstil wenig mit dem, was gemeinhin unter »Brutalität« verstanden wird …
… aber ich will nicht mehr Verwirrung stiften, als eh schon herrscht. Zumindest bei mir: Ein Album wie »Solar Wind« (in England bei Touch veröffentlicht) bietet über eine Stunde lang (Sopran-)Saxophonklänge (Parker), die elektronisch verfremdet werden (Casserley) – teils live, also tatsächlich mit Interaktion zwischen Instrumentalist und Manipulator, teils per Postproduction (von beiden), hier Anfang 1997 im Amsterdamer STEIM-Studio umgesetzt (dem niederländischen Pendant zu solchen Institutionen wie dem Studio für Elektronische Musik in Köln, in dem etwa Karlheinz Stockhausen viele seiner Kompositionen umgesetzt hat).
Evan Parker (*1944) kommt eher aus dem Jazz resp. der Improvisierten Musik, hat über Jahrzehnte bereits mit allen Größen zusammengespielt, und ist selbst eine Größe. Lawrence Casserley (*1941) hat offensichtlich erst mit dieser Aufnahme begonnen, untere eigenem Namen Tonträger zu veröffentlichen und war mir bis dato unbekannt, wohingegen sich Parker auf über 20 Tonträgern in meiner Sammlung findet, darunter nur wenige Veröffentlichungen unter seinem Namen – dafür zieht sich von Peter Brötzmanns Oktett-Album »Machine Gun« (1968) über die Zusammenarbeit mit Scott Walker auf »Climate Of Hunter« (1984) bis hin zu David Sylvians komplexerem Spätwerk »Manafon« (2009) seine Spur verlässlich durch meine Sammlung.
Aber zurück zu meiner Verwirrung (s.o.) – sie resultiert zum einen daher, dass die Musik auf »Solar Wind« auf der Basis von Improvisation des einen direkt durch den anderen bearbeitet wird, der jazztypische Dialog (oder Monolog, wenns daneben geht) wird eher zu einer Wirt/Parasit-Beziehung, bei der der eine (Parasit) nicht ohne den anderen (Klanglieferant) sein kann – das widerspricht den Charakteristika der Improvisierten Musik noch mehr als der Fakt, dass es Aufnahmen von ihr gibt, also das Festhalten/Einfrieren des Prozessbetonten. Zum anderen entfernt sich diese Musik in ihren Ergebnissen immer weiter von allem, was Sprache in Form von (Musik-)Theorie noch fassen und vermitteln kann: Bietet in der größten Kakophonie immerhin noch die Spieltechnik eine Möglichkeit, Klänge handwerklich einzuordnen, oder bei den meisten modernen Kompositionen ein theoretischer Unterbau die Option, sich qua Diskurs dem Klanggeschehen zu nähern, so werden Hörer:innen hier komplett sich selbst und den Klängen überlassen. Es sind Alben, die (bei mir) am besten abends/nachts (gerne in dunklen Räumen) ihre Wirkung entfalten, eine ordentliche Stereoanlage vorausgesetzt. Aber auch zum Arbeiten sind diese Klänge oft geeigneter als Popmusik mit ihrer immanenten Aufdringlichkeit. Erklärende Lektüre wird keine zu den sechs Stücken geliefert, das immerhin achtseitige Booklet (mit eher abstrakten Bildern) bietet auf lediglich drei Seiten wenige Zeilen Text, neben den auf zwei Seiten verteilten vier Zeilen Production Notes muss ein Zitat von Jorge Luis Borges (aus »Die kreisförmigen Ruinen«, 1940) genügen. Bleibt also jede Menge Raum fürs Kopfkino …
Tip: Wer meint, sein/ihr Interesse an »experimentellen« Klängen auch bei Labels wie ECM befriedigen zu können – nur zu: Im Anschluss an dieses Album hat Evan Parker dort mehrere Alben unter dem Namen Evan Parker Electro-Acoustic Ensemble veröffentlicht, da gibt es deutlich mehr Instrumente zu hören, aber auch mehr Manipulatoren (inkl. Casserley) – ich empfehle »Drawn Inward« (1999) oder »The Moment’s Energy« (2009) …