2/10. Jeb Loy Nichols: »Long Time Traveller« (2010/2016)

Eine absolute Perle – wenn frau keine Reggae-Allergie hat. In den frühen 1990ern schon verbanden die Fellow Travellers Country-eskes Songwriting mit Reggae und Dub und schafften es 1992 in der Spex sogar zum »Album des Jahres« (»Just A Visitor«). Mir war das damals allerdings eine Spur zu soft, und der Hype um die Band klang schnell wieder ab …

… aber man wird ja älter, die Hörgewohnheiten ändern sich (glücklicherweise): Als vor wenigen Jahren Stücke von »Long Time Traveller« im Zündfunk liefen, war ich wie elektrisiert. Jeb Loy Nichols, dem ehemaligen Kopf der Fellow Travellers, der als gebürtiger Amerikaner in den 1980ern nach England übersiedelte und seit Jahrzehnten einen abgelegenen Hof in Wales bewohnt, gelingt die Verbindung von Country und Reggae auf dieser Scheibe in absoluter Perfektion – sein Songwriting und seine Texte fokussieren ganz auf das Landleben, die Natur, die Weite, die Wanderschaft, er singt vom Kommen und Gehen, von Geborgenheit und Verlust. Er bindet Gefühle in Texte, die wie klassische Americana anmuten, umgeht allerdings sämtliche Stereotypen, die Frauen in Rollenklischees drängen oder mit Gewalt einhergehen (die der großartige Johnny Cash dagegen prominent besang: »But I shot a man in Reno, just to watch him die…«).

Diesen Country-Songs hat Adrian Sherwood, Mastermind hinter dem – fantastischen – englischen Label On-U Sound, mithilfe einiger Größen des Genres (u.a. Style Scott, Skip McDonald, Carlton »Bubblers« Ogilvie) ein absolut stimmiges, grooviges Reggae/Dub-Fundament untergeschoben. 2010 bereits (nur) in Japan auf CD erschienen, wurde das Album nochmal überarbeitet und ergänzt und schließlich 2016 offiziell bei On-U Sound veröffentlicht. Man/frau muss es gehört haben, um zu glauben, wie perfekt Nichols’ Poesie im Reggae-Gewand funktioniert – und Poesie ist es tatsächlich, selten haben sich Textzeilen dermaßen in mein Gedächtnis gebrannt. Zum einen weiß er, gesellschaftliche Missstände mit den richtigen wenigen Sätzen zu benennen (»To Be Rich Should Be A Crime«), zum anderen beeindrucken seine Liebeserklärungen wie in »Poor Man’s Prayer« oder »The day You Came Over The Hill« …

… und auf Dauer hat sich der Text zu »Mr. Nobody« eingebrannt, der mir immer durch den Kopf geht, wenn ich mit dem bepackten Gravelrad in die Wälder aufbreche, und dessen schleppender Groove perfekt dazu passt, mit dem beladenen Gravelbike im Schleichgang durch die Wälder zu cruisen:

There is a quiet place I know
Where heather and the hazel grow
Where primrose gathers at my feet
Far from the crowded city streets
I’ll throw away the man I once was
I have no need of wealth and fame
I’d rather sit here in the tall, tall grass
And let the trees forget my name
And I’ll leave the world behind me
Bring nothing to remind me
Who I was don’t try to find me
For I’m Mr Nobody

Jeb Loy Nichols: Mr. Nobody

Ganz groß – um ihn von seiner musikalisch abwechslungsreicheren (sowohl sehr poppigen als auch experimentellen) Seite kennenzulernen, bietet »Parish Bar« (2009) den perfekten Einstieg (inkl. seiner Semi-Hits »Countrymusicdisco45« und »Days Are Mighty«), wer seine Songs und Stimme in Reinform hören möchte, kann noch ein paar Tage lang das exklusive Wohnzimmer-Konzert beim Zündfunk nachhören: Nur mit Gitarre und Stimme entfalten seine Songs eine Intimität ohnegleichen.