13 Osward Road

Lesedauer ca. 20 Minuten Ein Portrait des englischen Musikverlags TOUCH, dessen Macher großen Wert drauf legen, nicht als »Label« bezeichnet zu werden – obwohl sie ein Label mit gleichem Namen betreiben, von dem ich mittlerweile weit über 100 Tonträger – LPs, CDs, Kassetten, USB-Sticks, Printmedien etc. – besitze. Erschienen 2010 in Testcard #19.

1993, noch als Designstudent, hielt ich ein Referat im Wahlfach »Kunst als Ware« – unter dem Titel »Ware als Kunst«: Anhand einiger Exemplare meiner Tonträgersammlung, speziell den handgefertigten Platten von :Zoviet*France: sowie ausgewählten Veröffentlichungen von unabhängigen Labels wie Illusion Production, Touch oder Sub Rosa versuchte ich darzulegen, dass die Degradierung von Kunst zur Ware – die den Kursleiter eigentlich umtrieb –, zwar bedauerlich sei, dass es aber andererseits durchaus Produkte gab und gibt, die zwar unter produktions- und vertriebstechnischen Aspekten primär Charakteristika einer »Ware« zeigen, jedoch durch ihre Aufmachung (Limitierung, Signierung, Handarbeit und andere, unter rein ökonomischen Aspekten sinnlose bis widersinnige Merkmale) als auch durch ihre (sperrigen, intensivere Beschäftigung einfordernden) Inhalte näher am Kunstwerk (als Unikat oder Multiple) als am Massenprodukt Ware zu verorten sind. Natürlich schwebt über solchen Diskursen immer Walter Benjamins Aufsatz über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« – auch hier ein geeigneter Einstieg in das Portrait einer Kommunikationsplattform (den Begriff »Label« halten die Macher selbst für zu einengend), deren Veröffentlichungen mich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit wechselnder Intensität in ihren Bann ziehen und zur Beschäftigung mit ihnen stimulieren.

Warum? Was ist das Besondere, Faszinierende an den Produktionen, die von einem Reihenhaus in der Londoner Osward Road aus ihren Weg zu Sammlern und Liebhabern in aller Welt finden? Besitzen sie am Ende das, dessen Verlust Benjamin konstatierte: eine Aura? Wenn ich auch für mich persönlich noch keine endgültige Antwort gefunden habe, so könnte doch die folgende Aussage von Jon Wozencroft etwas Licht ins Dunkel bringen – und einen Text eröffnen, der anhand meiner eigenen Sammlung und verschiedener Statements (1) aus Interviews mit den Machern Touch als (Kunst-)Projekt, Haltung und – ja: auch als Label vorstellt. Im Herbst 2000 antwortete Jon Wozencroft auf die Frage, was denn nun das Besondere an Touch sei:

»Die Aura. Walter Benjamin nimmt an, dass die technische Reproduzierbarkeit die Aura originärer Kunstwerke zerstört hat – wir dagegen nicht unbedingt. Wie bei einer mathematischen Gleichung steht Touch für ein umgekehrtes Verhältnis der vorhandenen Ressourcen zur Größe und zur Verbindlichkeit des Projekts. Das wirklich Außergewöhnliche an Touch ist, wie wir seit über 20 Jahren eine Art Dialog führen, eine Geschichte erzählen – und sie wächst, und wächst …«

Wozencroft 2000

1982 ff.

Mit dem Slogan »Touch – not a record label«, von Touch selbst auf aktuellen T-Shirts verbreitet, unterstreichen die beiden Macher zum wiederholten Male, dass das Projekt Touch weit mehr umfasst als den bloßen Output von Tonträgern, geschweige denn »Musik«: »Wir sind nicht »Touch Records«. Touch ist ein Kunstprojekt. Die meisten Labels haben ein und dieselbe Agenda: soviel Platten wie möglich zu verkaufen, die alle in die Hitparaden gelangen – und alles, was diese Labels tun, ist nur darauf ausgerichtet. All das hat mit unserem Alltag überhaupt nichts zu tun.« (Harding 2004)

Touch wurde 1982 von Jon Wozencroft zusammen mit Mike Harding, Andrew McKenzie und Garry Mouat gegründet, wobei Mouat das Projekt bereits nach einigen Veröffentlichungen verließ, McKenzie etwas später, in den frühen 1990er Jahren. Mit den allerersten (Kassetten-)Veröffentlichungen versuchte Touch, cross- bzw. multimedial zu publizieren, denn …

»… wir spürten, dass die Musik im Post-Punk wieder stärker Anbindung suchte an eine sinnliche Vielfalt, wie etwa in der Psychedelik-Ära zuvor. Das war für uns das Stichwort, das Projekt in eine mediale Plattform zu erweitern, die dezidiert audiovisuell orientiert war.«

Wozencroft 2009

Die Betonung des Audiovisuellen dokumentieren die ersten Veröffentlichungen exemplarisch: »Feature Mist« (T1, 1982), »Meridians 1« (T2, 1983), »Meridians 2« (T3, 1983), »Travel« (T4, 1984) und »Ritual: Magnetic North« (T5, 1985) erschienen als Magazine (im besten Wortsinn: Speicher oder Lager verschiedener Inhalte), bestehend aus Drucksachen (Texte, Bilder) und Kassetten (Musik, Sounds) – wobei die Drucksachen nur teilweise gebunden waren, oft eher als Loseblattsammlungen beilagen und damit keine wirkliche inhaltliche Reihenfolge mehr vorgaben. Anders die Kassetten, allesamt Kompilationen aus (mehr oder weniger) songorientierter Musik, Soundscapes und Audioschnipseln, die vom Fernseher weg aufgenommen wurden. Technisch bedingt können die Kassettenseiten eigentlich nur linear abgespielt werden – beim Digitalisieren der alten Tapes stellt sich jedoch schnell heraus, dass eine eindeutige Zuordnung der Stücke auf Band anhand der gedruckten Tracklist nicht ganz einfach ist: nicht alle Audioschnipsel wurden in den Drucksachen aufgelistet, Überblendungen machen die Separation in einzelne Tracks zu einer Herausforderung.

Der historische Bezug auf die Psychedelik-Ära ist nicht der einzige – Wozencroft führt den Almanach »Der Blaue Reiter« der gleichnamigen Künstlergruppe an,

»… eine Sammlung von Kunstdrucken, Gedichten und Aufsätzen, mit viel Liebe zum Detail und dem bewussten Spiel mit »Überlagerungen«: wie ein Teil des Mediums mit dem anderen in Beziehung stehen könnte. Es war nicht bloß eine Zeitschrift – und hatte wirklich Einfluss darauf, wie die Leute über »Form« dachten.«

Wozencroft 1992

Der Almanach »Der Blaue Reiter« erschien erstmals 1912 in einer Auflage von 1200 Exemplaren und enthielt 141 Reproduktionen von Kunstwerken/-drucken, 19 Texte und drei Musikbeilagen (Nachdrucke folgten später, auch in anderen Sprachen) – ein Schelm, wer dabei an die Auflagenhöhe aktueller Independent-Produktionen denkt. »Feature Mist«, der erste Touch-Almanach, erschien mit einer Startauflage von 5000 (!) Exemplaren – die sich innerhalb kürzester Zeit verkauften. Mike Harding über die damaligen Bedingungen:

»Als wir anfingen, blühte der Underground förmlich auf: 17 Prozent aller Plattenverkäufe in England liefen über Rough Trade und die Independent-Szene, es gab in jeder Stadt kleine Plattenläden – und es ging im Underground richtig voran.«

Harding 2004

Den Verkaufserfolg der frühen Touch-Kompilationen hat nicht zuletzt der Umstand positiv beeinflusst, dass auf den Kassetten viele der seinerzeit angesagtesten unabhängigen Bands und Musiker vertreten waren – New Order, John Foxx (Ultravox), Graham Lewis und Bruce Gilbert (Wire), Simple Minds, 400 Blows, A Certain Ratio, 3 Mustaphas 3, Andrew Poppy, Jah Wobble, Einstürzende Neubauten, Nocturnal Emissions, Test Dept. etc. – das neugegründete Touch-Label befand sich von Anfang an unmittelbar im Zentrum des musikalischen Undergrounds der frühen 1980er Jahre. Der Bezug zur bildenden Kunst, auf der anderen Seite, war weder Koketterie noch Marketing-Gag, sondern das tatsächliche Movens der Macher:

»Wir veröffentlichen Musik und Drucke in kleinen Auflagen genau so, wie Kleinverlage oder Fotografen Editionen herstellen, um diese in Galerien zu verkaufen.«

Wozencroft 2000

Dass Form (Gestaltung, Verpackung) und Inhalt (Texte, Bilder, Klänge) mit der gleichen Sorgfalt bedacht wurden, erscheint heute schon fast exotisch. Nach einem Jahrzehnt der White-Label-Pressungen und standardisierten Kartontaschen im musikalischen Underground der 1990er Jahre scheinen sich mit dem Jahrzehnt der Weblabels, Tauschbörsen und Downloads (2000er) Haptik und Optik von Veröffentlichungen endgültig aufzulösen – bzw. auf einem Level einzupendeln, das bestenfalls an die Frühzeit der Tonträgergestaltung (bedruckte Schutzhülle, Beiblatt oder vierseitiges Booklet) anschließt. Es gibt Ausnahmen, aber sie bestätigen doch eher die Regel: Myspace und Youtube vermitteln heute klangliche und visuelle Informationen auf reinem Datenlevel, und das nicht nur von bekannteren Bands bis hin zu Mainstream-Acts (die immerhin mit einiger Regelmäßigkeit noch Sammlereditionen auf den Markt werfen), sondern von einer Vielzahl weniger bekannter Bands und Musiker, von denen oft nicht mehr als ein paar Files zum Download erhältlich sind. An eine Art »Gesamtkunstwerk«, oder zumindest ein Statement abseits von Songtexten und Slogans, denken dabei die wenigsten.

»Bei Feature Mist [ging es] um Fernsehen, um Massenmedien … eine simple Idee: die Kassette als »Programm«, das Booklet als leicht durcheinander geratenes »Programmheft«. Garry brachte es auf den Punkt: Wir lieferten den Soundtrack, das Drehbuch und ein paar Schnappschüsse, und das Publikum muss seinen eigenen Film daraus machen. Eine unserer Grundüberzeugungen ist nach wie vor, dass die besondere Dynamik des Films auch mit Drucksachen oder Klängen vermittelt werden kann – eine Form des Erzählens, für die man kein Multimillionen-Dollar-Budget benötigt.«

Wozencroft 1992

Neben Garry Mouat und der Fotokünstlerin Panni Charrington war es vor allem Neville Brody, der Touch zu einer starken (ersten) visuellen Identität in den 1980er Jahren verholfen hat. Brodys Arbeiten, noch vor denen eines Peter Saville (Factory Records) oder Vaughan Oliver (4AD), gelten heute als emblematisch für das Grafikdesign des ausgehenden 20. Jahrhunderts – sei es durch ihre Verbindung von Schrift und Bild, durch die technischen Verfahrensweisen, die einen roten Faden vom Schwarz/Weiss-Kopierer zum DTP ziehen, durch ihre neue Art, Typografie und Editorial Design zu definieren oder durch die dynamischen Erscheinungsbilder, die er in den 1990er Jahren für Nike oder den österreichischen ORF entwickelte (2).

Von Anfang an veröffentlichte Touch neben den breit angelegten Almanachen auch monothematische Kassettenzusammenstellungen, von »Islands In-Between« (Gamelanmusik aus Indonesien, T33.2, 1983) bis »Behzad: Myth« (persische Musik, T33.9, 1989), dazu immer mehr Einzelveröffentlichungen von Musikern – »Danger In Paradise« von General Strike etwa, einem Projekt von David Toop und Steve Beresford (TO:2, 1984), oder »Drowning In A Sea Of Bliss« von Nocturnal Emissions (TO:4, 1986). Ebenfalls aus dieser Zeit stammen einige Medien, die keine Audiodateien enthalten, aber mit eigenen Katalognummern versehen sind – ein schmaler Band mit Collagen von Panni Charrington (»Second Sense«, TO:3, 1984), ein Poster von Neville Brody (»The Death Of Typography«, TO:8, 1987) oder die englische Übersetzung von Jean Baudrillards Essay »Le Xerox Et l’Infini« (Codex 1, 1988). 1992 folgte sogar die erste Nummer eines Print-Magazins in Buchform, »Vagabond« – bis heute jedoch die einzige Ausgabe.

Ersten Vinyl-Veröffentlichungen wie der Split-7« von Last Few Days/SZ (T5.45, 1985), The Hafler Trio (Klangcollagen von Touch-Mitbegründer McKenzie, anfanänglich zusammen mit Chris Watson, ex-Cabaret Voltaire), Strafe Für Rebellion (Klangcollagen mit Tendenz zur Songstruktur) oder Soliman Gamil (ägyptische Musik) folgten bald CD-Veröffentlichungen der Vorgenannten, und es schien, als ob sich Touch doch zu einer Plattenfirma entwickelte, die sich auf die Veröffentlichung einiger wenige Künstler (v.a. The Hafler Trio) konzentriert – wobei der konzeptionelle Fokus mit den vorherigen Kassettenkompilationen festgelegt schien. »Neue« Künstler wie Etant Donnés, Z’ev oder John Duncan brachten zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich »neue« musikalische Aspekte – aber die Veröffentlichen auf Touch gehören für die jeweiligen Künstler sicherlich zu deren herausragenden Werken überhaupt. Wozencroft beschreibt Touch als eine Art äußeres Regulativ für die inneren kreativen Prozesse der Künstler:

»Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man Musik spielt oder ob man Musik veröffentlicht. Heute ist es nichts Ungewöhnliches, dass Musiker auch ein eigenes Label betreiben – großartig, aber … es ermöglicht Dir nicht mehr, objektiv zu sein, ein distanziertes Urteil zu bilden, was jedoch für die wirklich großartigen Werke unerlässlich ist.«

Wozencroft 2008

Diese Distanz als Regulativ im kreativen Prozess der Künstler übernimmt Touch für die Entscheidung, welches Material wie auf welchem Medium veröffentlicht wird; und man betrachtet eine Veröffentlichung nicht als einzelnes Artefakt, sondern wie eine Art Ausstellung, die Prozesse dokumentiert:

»Wir übernehmen nicht einfach nur fertige Projekte zur Veröffentlichung, sondern begleiten Prozesse in Zusammenarbeit mit den Künstlern. »Kuratierendes Hören« ermöglicht eine völlig neue Methode von Art Direction – wir können sie nicht erklären, denn sie bezieht sich immer auf den jeweiligen Künstler und seine Arbeit.«

Wozencroft 2009

1994 ff.

Mit den Veröffentlichungen von Richard Kirk (Cabaret Voltaire), unter seinen Pojektnamen Sweet Exorcist und Sandoz, schien Touch ab 1993 Anschluss an die Techno/House-Bewegung zu finden – unterstrichen z. B. durch die Artworks von Designers Republic für die ersten beiden Sandoz-Veröffentlichungen, die zu dieser Zeit alle maßgeblichen Veröffentlichungen für Techno/House-Labels wie Warp oder R&S gestalteten. Dabei färbte der teilweise inflationäre Tonträger-Output Kirks (3) auch auf die Aussenwahrnehmung von Touch ab (ähnlich der Masse an Hafler Trio-Veröffentlichungen einige Jahre zuvor, die – unvollständig – 1993 von Touch zusammen mit Mute auf 6 CDs wiederveröffentlicht wurden).

Kontinuität wird gross geschrieben, meist finden sich unter den Touch-Veröffentlichungen mehrere Alben der gleichen Künstler – auch über längere Pausen hin: die erste Z’ev-Veröffentlichung etwa auf Touch, die Werkschau »One Foot In The Grave« (TO:13), erschien 1991, die nächsten CDs erst 2004 und später. Taucht ein Künstler oder Projekt erst einmal im Touch-Katalog auf, dann ist mit weiteren Veröffentlichungen zu rechnen.

Ungeachtet der kontinuierlichen Zusammenarbeit mit den Künstlern bleibt immer wieder Raum für Neuzugänge, die mit der gleichen Sorgfalt bedacht werden. In den letzten Jahren waren das vor allem Philip Jeck (ex-Slant, Soundscapes mit Plattenspielern – soeben mit dem Paul Hamlyn Foundation Award for Composers 2009 ausgezeichnet), die beiden »Gitarristen« Oren Ambarchi und Christian Fennesz oder der Minimal-Komponist Phill Niblock, alle inzwischen mit mehreren Veröffentlichungen auf Touch vertreten – die bei Veröffentlichung dieses Textes aktuellste stammt von Niblock (»Touch Strings«, TO:79, veröffentlicht Oktober 2009), der selbst seit gut 30 Jahren als Komponist aktiv ist und ein eigenes Label – Experimental Intermedia – in den 1990ern aktiv betrieben hat.

»Die Vorstellung, ständig etwas »Neues« machen zu müssen, ist eine der größten Krankheiten der zeitgenössischen Kultur. Schließlich ist ein Aspekt des Neuen doch gerade, dass man ein Gefühl für Zeit und Tradition besitzt, dafür also, was vorher geschehen ist …«

Wozencroft 2008

Das ursprüngliche Konzept der Diversität und Heterogenität der frühen Kassettenkompilationen trifft längst auf das ganze Projekt Touch zu. Die schiere Masse der Veröffentlichungen bildet einen klanglichen und ästhetischen Kosmos ab, der mit einer durchlässigen Membran hin zu Ash International verbunden zu sein scheint – jenem Label, das ab 1993 ebenfalls aus der Londoner Osward Road zu publizieren beginnt: Experimentelle elektronische Musik (den Startschuss bilden die ersten CDs von Robin Rimbaud aka Scanner), Feldaufnahmen (wörtlich zu nehmen: magnetische und elektrische Feldströme bei SETI oder Disinformation, Datenströme bei UBSB) und elektro-akustische Kuriosa, die oft keinem Künstler mehr zugeordnet werden (Aufnahmen von Funkverkehr bei »Blind/Fragment« oder »Runaway Train«, die »Mesmer«-12″, Dragster-Rennen bei »Santa Pod« etc.).

Einen personellen Schwerpunkt, neben wenigen Überschneidungen mit den Touch-Künstlern, bilden bei Ash International Künstler aus dem Umfeld des schwedischen Fireworks-Labels wie Leif Elggren und CM von Hausswolff und deren »Elgaland–Vargaland«-Projekt (ein imaginärer Staat, der inzwischen auf mehreren CDs und in jüngster Zeit auf einer Reihe von 7« (»National Anthem«-Reihe) dokumentiert ist).

Für die Veröffentlichungen von Ash International trifft fast noch mehr zu, wie Wozencroft in einem Interview das Selbstverständnis von Touch und die Veröffentlichungen – unter dem Aspekt des Mediums als Kunstwerk – beschreibt:

»Kunst muss nicht gefallen, zumindest nicht nur. Vieles »mag« ich nicht, etwa einige der Hafler Trio-Veröffentlichungen – sie sind brilliant, aber deshalb muss ich sie nicht unbedingt mögen. Wer würde schon sagen, ihm gefiele Picassos »Guernica«? Wer würde sich beim Essen Musik von Xenakis anhören?«

Wozencroft 1992

Was ist Kunst? Seit den Touch-»Almanachen« der frühen Jahre sind Dekaden vergangen, und wenn auch erste CD-Veröffentlichungen noch in überformatigen Kartonhüllen mit ausführlichen Booklets daherkamen – insbesondere Veröffentlichungen wie »Ignotum Per Ignotius« (TO:11, 1989), »A Bag Of Cats« (SPL:1, 1990) oder »How To Reform Mankind« (TO:24, 1994), alle von The Hafler Trio –, so werden die Touch-Veröffentlichungen seit den mittleren 1990er Jahren wahlweise im Digipack oder in einfacher Papphülle (ähnlich einem LP-Cover en miniature, aber ohne Rücken) veröffentlicht, seltener in den viel aufwendigeren überformatigen Kartonhüllen. Die aktuellste Veröffentlichung von Phill Niblock kommt als Doppel-CD im gewöhnlichen Jewelcase daher.

Im Gegenzug wird die visuelle Ästhetik weitgehend von den Fotografien (und der Typografie) Wozencrofts dominiert – ganzseitige Tableaus, die neben vereinzelten Makro-Aufnahmen überwiegend Natur- und Zivilisationspanoramen bieten oder bilden, in die sich die Typografie dezent einfügt, anstatt wie bei den früheren Designs Mouats oder Brodys gleichwertiges bis dominantes Merkmal zu sein.

»Rückblickend könnte man natürlich einiges dazu sagen, warum Grafikdesign und Typografie als Option, künstlerische Praxis adäquat auszudrücken, keine Rolle mehr spielen. Seltsamerweise ist das Grafikdesign seit Mitte der 1990er Jahre wie ausgebrannt … Die Fähigkeit, populär und experimentell zugleich zu sein, wurde vollständig in die visuelle Kultur des Mainstream einverleibt, von Raygun und MTV bis zu den großen Geschäften vor Ort.«

Wozencroft 2009

Am Niedergang des Grafikdesign – eine provokante These – war Wozencroft nicht ganz unbeteiligt, wenn auch ex negativo: Zusammen mit Neville Brody und Erik Spiekermann initiierte er das Projekt »Fuse«, das zwischen 1991 und 2000 18 mal das Prinzip der frühen Touch-Kompilationen in typografische Produkte übersetzte: je vier experimentelle Schriften unterschiedlicher Designer auf Diskette, dazu vier Poster und Extras, verpackt in ansprechende Kartonboxen.

»Fuse veröffentlichte experimentelle Schriften und ermutigte Designer, die Grundformen des Alphabets zu erweitern, zu verändern und neu zu erfinden, um ein neues Verständnis für die Formen der alltäglichen Kommunikation zu erreichen. Wir wollten auch ein Forum schaffen, das die Cut-Up-Technik von W.S. Burroughs und Brion Gysin aus den 1960ern aufgriff – die Typografie der frühen 1990er Jahre war ein lebendiger Beweis für deren Annahme, Sprache sei ein »Virus«.

Wozencroft 2000

Als Gedankenexperiment nach wie vor hochinteressant, hat sich die mangelnde Alltagstauglichkeit der Schriften allenfalls negativ auf das Grafikdesign der 1990er ausgewirkt – anstatt durch ihren Gebrauch tiefer in die Bedeutung von Sprache einzudringen, verkamen die Fonts weitgehend zum bloßen Dekomaterial illiterater Gestalter. Aber nicht nur der formale Niedergang, sondern auch die wachsende inhaltliche Bedeutungslosigkeit von Kommunikation bereitet Wozencroft Sorgen:

»Ich sehe die aktuelle Situation als wirklich schwierig an, weil die Sprache des Widerstands verwässert und Teil der Werbung geworden ist; meine Studenten haben kein eigenes Vokabular mehr, mit dem sie sich davon abheben könnten.«

Wozencroft 2000

Es scheint diese Erfahrung zu sein, die Wozencroft bewegt hat, die Ästhetik der Touch-Veröffentlichungen (und teilweise auch der von Ash International) typografisch zu entschärfen und im Gegenzug die Fotografie in den Vordergrund zu stellen – nicht als illustrierendes zusätzliches Element zu den Tönen, sondern durchaus auch in kontrastierender Weise:

»Es geht mir darum, überwiegend instrumentale, abstrakte Musik um ein narratives Moment zu erweitern. Ich dachte, es wäre wichtig, der entmaterialisierten Welt digitaler Klänge etwas aus der natürlichen, physischen Welt zur Seite zu stellen – um eine Spannung zwischen Klang und Bild zu erzeugen und beide in einen humanen Kontext zu stellen.«

Wozencroft 2008

Diese Vorgehensweise läuft dem idealen Prinzip der Informationsübermittlung – die Botschaft wird vom Empfänger im Sinne des Senders interpretiert – zuwider und befördert stattdessen das subversive Potential des Mediengebrauchs, welches Stewart Hall in seinem Aufsatz »Kodieren/Dekodieren« (4) beschreibt: der Empfänger nutzt die übermittelte Information nicht im Sinne des Senders, sondern interpretiert sie nach eigenem Gusto. Den Freiraum dafür legt Wozencroft implizit in seiner Arbeit an:

»Der andere Aspekt meiner visuellen Gestaltung ist, dass nur selten Menschen darin vorkommen und der Betrachter sich selbst darin sehen kann – dass sich ein Raum öffnet, den jede/r erkunden kann, anstatt sich innerhalb von visuellen Vorgaben bestätigt zu finden, die durch Mode, Kleidung, Stil oder Coolness bestimmt werden. Ich vermeide diese Vorgaben in meiner Arbeit, und vielleicht gelingt mir dadurch sogar eine Art ökologisches Statement: Zu verdeutlichen, dass es eine größere Welt da draussen gibt, einen größeren Zusammenhang als den, den ein beschränkter Digipack möglicherweise abbilden kann.«

Wozencroft 2008

2006 ff.

Liest man die Interviews mit den Touch-Machern, die über einen Zeitraum von 17 Jahren entstanden sind, erstaunt die Kontinuität, mit der Jon Wozencroft und Mike Harding ihre Vision von medialer Kommunikation einerseits auf konstanten Parametern aufbauen, in denen Schlagworte wie Aufmerksamkeit, Ökologie oder Moral eine gewichtige Rolle spielen:

»Touch ist auch eine moralische Stellungnahme, das Aufzeigen gewisser Standards, eine Art, die Welt zu betrachten. Oberflächlich betrachtet betreibt Touch einfach nur viel Aufwand bei Design und Verpackung – aber das ist nur eine Art, wie wir unsere Sorgfalt ausdrücken im Umgang mit dem, was uns am Herzen liegt.«

Wozencroft 2000

Andererseits negieren sie nicht den technologischen Fortschritt – bei aller Kritik etwa an digitaler Technologie und ihrem aktuellem Gebrauch –, sondern beziehen ihn in das eigene Wirken ein. Neben Websites, die alle bisherigen Veröffentlichungen von Touch (ca. 220) und Ash International (ca. 50) auflisten, meistens mit detaillierten Informationen (Tracklist, Linernotes, Reviews etc.), bietet ein Online-Shop alle lieferbaren Veröffentlichungen, ergänzt um zusätzliche Medien der Touch-/Ash-Künstler und andere Tonträger, deren Inhalte vom hauseigenen Musikverlag Touchmusic herausgegeben werden. Seit 2005 veröffentlicht ein eigener Podcast mittlerweile 45 Audiodokumente, die als Ergänzung zu den physikalischen Veröffentlichungen die aktuellen klanglichen Präferenzen des Labels abbilden.

Trotz – oder vielleicht wegen? – der relativen technischen (und finanziellen) Unkompliziertheit, die die Distribution via Download bietet – (vergriffene) Veröffentlichungen sind mittlerweile auch als käufliche Downloads zu haben –, stehen »echte« Tonträger nach wie vor im Vordergrund. Dabei wird der technologische Fortschritt ganz bewußt gegen den Strich gebürstet: Nur wenige Tonträger werden in mehreren Formaten veröffentlicht, meist fällt die Entscheidung zugunsten eines einzigen Formats. Das ist in der Regel die CD, aber auch vereinzelt Digitalprints, deren Erwerb den Download einer zugehörigen exklusiven Audiodatei erlaubt. Auch die Kassette erlebt derzeit ein Comeback – Ash International hat im Frühjahr 2009 zwei Neuveröffentlichungen exklusiv auf Kassette herausgebracht – »Three Questions And An Answer« von Philip Marshall (Ash 7.5) und »The Noisiest Guys On The Planet« von Jana Winderen (Ash 8.1). Und ein neues Kassettenlabel (!), The Tapeworm, wird exklusiv über Touch vertrieben, z.T. ebenfalls mit Veröffentlichungen von Touch-Künstlern wie Philip Jeck, Simon Fisher Turner oder Geir Jenssen (Biosphere) und – als besonderem Spass – der Aufnahme von zwei älteren Damen, die Baudrillards »Xerox and Infintiy«-Essay vorlesen.

Der kommerzielle Faktor wird durch die Wahl solcher Formate in der heutigen Zeit konterkariert – wer, außer einer Handvoll Hartgesottener, verfügt heute noch über ein funktionierendes, angeschlossenes Kassettendeck? Oder würde sich gar ein neues kaufen, um Kassetten (die ebenfalls neu gekauft werden können) abzuspielen? In schwächerer Form trifft dieser Aspekt auch auf Vinyl-Schallplatten zu – ein guter Grund für Touch und Ash International, in den letzten Jahren je eine eigene 7«-Serie zu starten: Touch mit den acht »Touch Sevens« (2007/2008), Ash International mit den mittlerweile vier »National Anthem«-Singles (2007/2009). Das kleine Format und die kurze Spielzeit werden in stabilen Mini-Covern präsentiert, gerade so wie Bonsai-LPs (und doch mit einem Vielfachen an bedruckter Fläche im Vergleich zu den CD-Verpackungen), während technisch wieder einmal die Vorzüge von Vinyl (Endlosrillen, gegenläufige Tonarmführung) vorgeführt werden.

Es ist schwierig, mit solchen Formaten die bestehende Klientel, längst an den Komfort digitaler Musik auf CD oder Festplatte gewöhnt, bei Laune zu halten – und noch schwieriger, neue Hörer zu gewinnen. Aber liegt das Schwierige nicht schon im Inhalt selbst, im Material, das die Medien aus der Osward Road verbreiten? Geräuschaufnahmen neben Orchesterwerken, Brummen oder Scheppern neben Popsongs, Folkore und Weltmusik neben Techno, House und Dub – das Repertoire von Touch ist vielfältig, und bei unbekannten Künstlern kann man weder vom Namen, geschweige denn von der Covergestaltung her erahnen, was den Zuhörer an akustischer Information erwartet.

»Was mich wirklich aufregt ist die Art und Weise, wie sich unsere Kultur der Auseinandersetzung mit dem »Schwierigen« immer mehr verweigert. Das Schwierige ist unerlässlich, omnipräsent. … Und diese Verweigerung geht einher mit der geförderten Infantilisierung. … Das Schwierige ist düster, ist dunkel – aber in der Dunkelheit muss sich der Sehsinn notwendigerweise neu justieren. Auch bei Touch geht es um Entertainment. Ich bestehe aber darauf, dass es vor allem darum geht, dass sich unsere Strategien und Schritte langfristig nur Linie demjenigen offenbaren, der das entsprechende Maß an Aufmerksamkeit aufbringt – das ist nicht zuviel verlangt von jemandem, der etwas verstehen möchte, aber natürlich viel zu viel von einer Kultur, deren Ziel die totale Gedankenlosigkeit ist.«

Wozencroft 2000

Die Langzeitstrategie von Touch geht auf – in den letzten Jahren häuften sich die öffentlichen Performances von Touch-Künstlern im Rahmen der diversen Geburtstagsfeiern (20 und 25 Jahre Touch-Events), an so illustren Orten wie der Queen Elizabeth Hall in London oder dem Centre Pompidou in Paris. Und das, ohne je Kompromisse in Richtung Kommerzialisierung eingegangen zu sein.

Touch (und Ash International) besetzen seit Jahrzehnten eine besondere Nische im riesigen Kosmos experimenteller Medien. Mit dem bipolaren Fokus auf Innovation (nicht um ihrer selbst willen) und Kontinuität (in der Zusammenarbeit mit Künstlern, deren Arbeitsethos mit dem von Wozencroft/Harding harmoniert) erübrigt sich das Achselzucken angesichts der soundsovielten CD von Philip Jeck, Christian Fennesz oder Phill Niblock. Der »Erzählstrang«, mit dem Wozencroft den Output von Touch vergleicht, fordert oft aufmerksames Hinhören und -schauen, verträgt aber auch die eine oder andere Pause – auch auf die Gefahr hin, möglicherweise ein gewichtiges Moment zu verpassen.

Anmerkungen

(1) Die Statements wurden von mir meist wörtlich, manchmal aber auch sinngemäß übertragen. Die übersetzten Passagen sind in den Anmerkungen im Original zu finden, die kompletten Interviews sind online frei zugänglich zum Nachlesen. Mein besonderer Dank gilt vor allem der Online-Plattform Bleep (die kommerziell Touch-Downloads anbietet), Rebels in Control (die die Webseiten für Touch, Ash International und Tapeworm entwickelt haben), Kiran Sande (Fact Magazine), Philip Sherburne (*surface Magazin) und Barry Nichols, die durch ihre Interviews die Statements von Jon Wozencroft und Mike Harding zugänglich gemacht haben. Aufgrund der vielen Aspekte, die in diesen Statements abgebildet werden, habe ich auf ein eigenes Interview verzichtet – von meinem ursprünglichen Vorhaben, auch das OR-Label in diesem Feature aufzuführen, bin ich nach Korrespondenz mit und Anraten von Mike Harding abgekommen.

(2) Ausführlich dokumentiert sind die frühen Arbeiten Brodys für Labels, Bands und Zeitschriften in »The Graphic Language of Neville Brody« (London 1988); »The Graphic Language of Neville Brody 2« (London 1994) bildet dagegen eher seine kommerzielleren Arbeiten für Firmen und Institutionen ab. Herausgeber beider Bände ist Jon Wozencroft.

(3) Output von R.H. Kirk im Jahr 1994: 14 LP-Seiten bzw. 7 CDs (nur »Studioalben«): Cabaret Voltaire: „The Conversation“ (4xLP/2xCD – R&S); Electronic Eye: „Closed Circuit“ (4xLP/2xCD – Beyond); Richard H Kirk: „Virtual State“ (2xLP/CD – Warp); Sandoz: „Intensely Radioactive“ (2xLP/CD – Touch); Sweet Exorcist: „Spirit Guide To Low Tech“ (2xLP/CD – Touch).

(4) Vgl. Stuart Hall: »Kodieren/Dekodieren« (1973) in: Roger Bromley/Udo Göttlich/Carsten Winter (Hg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. zu Klampen, Lüneburg 1999: S. 92–110.

Der Aura der frühen Touch-Veröffentlichungen hat Fergus Kelly als Fan in seinem Blog ein sehr lesenswertes, subjektives Denkmal gesetzt: »Drowning In A Sea Of Hiss – The cassette culture of early Touch releases«

Quellen

  • Wozencroft 2009: Bleep Interviews Touch (2009)
  • Wozencroft 2008: Interview with Jon Wozencroft by Kiran Sande © Kiran Sande. Originally published in FACT Magazine, issue 27 – August/September 2008 –
  • Harding 2004: Interview with Mike Harding by Rebels in Control, July 2004
  • Wozencroft 2000: Interview with Jon Wozencroft by Philip Sherburne, in *surface magazine, Autumn 2000
  • Wozencroft 1992: Interview with Jon Wozencroft by Barry Nichols, December 1992

Urprünglich erschienen in
A. Athens / R. Behrens / M. Büsser / J. Engelmann / J. Ullmaier (Hg.):
testcard #19 – Blühende Nischen
Ventil Verlag, Mainz 2010, 312 Seiten, ISBN 9783931555184
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Die Quellen fanden sich alle online, sind aber mittlerweile überwiegend nicht mehr unter den ursprünglichen Adressen abrufbar. Allerdings hat TOUCH selbst die Interviews auf einer eigenen Seite gesammelt (die älteren Interviews finden sich weiter unten – scrollen bitte) – und ich habe mir seinerzeit lokale PDF-Versionen der Interviews gesichert.
Die Links in diesem Artikel wurden von mir im März 2020 geprüft, aktualisiert oder ergänzt – keine Garantie, dass sie später noch aktuell sein werden. TouchAsh International

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