EBM (Electronic Body Music) war ab den mittleren 1980ern die echte Chance für Freund:innen der etwas härteren musikalischen Gangart, den Absprung von E-Gitarre und fußballfeldgroßem Schlagzeug hin zu Synthesizer und Drumcomputer zu wagen – und (in meinem Fall) auch zu schaffen. Trotzdem war das Genre unbefriedigend und nicht wirklich klar definiert. Front 242 etwa schafften mit einzelnen Stücken Großes (das »Headhunter«-Intro lief jahrelang als Zündfunk-Jingle im BR), aber enttäuschten mich immer maßlos auf Albumlänge, meistens schon auf der B-Seite der entsprechenden Maxi (wobei »Headhunter« b/w »Welcome To Paradise« über jeden Zweifel erhaben ist – ein Juwel!). Dasselbe galt für Nitzer Ebb, Skinny Puppy, Neon Judgement, Cassandra Complex, Borghesia … mir war der Sound auf Dauer zu stumpf und vor allem zu marschmusikmäßig. Nicht funky genug, nicht sexy genug – dabei waren meine Ansprüche als relativ frischer Pop-Konvertit diesbezüglich recht gering zu der Zeit.
Eine Platte aber war anders, richtig großartig sogar: »Twitch« (1986) von Ministry – ein Meilenstein des Genres, unverschämt funky (»All Day«, »Over The Shoulder«) oder richtig soulful (»The Angel«), von Adrian Sherwood (On-U Sound) produziert und ganz klar ein Album der Sorte »all killer, no filler«. Völlig anders als das völlig belanglose Synthipop-Debut »With Sympathy« von 1983, das ich erst im Nachgang kennenlernte und nur deshalb behalten habe, weil wirklich niemand sonst die Platte haben will.
Dann kam 1988 die neue Ministry-Platte raus …
… und war wohl der massivste unerwartete Schlag, den ich je in meine musikalische Fresse bekam (um mal irgendwie ein Bild zu zeichnen), mit Medizinbällen als Boxhandschuhen: Der Opener »Stigmata« zischelt noch sechs Takte lang bei niedriger Lautstärke, aber schon sehr giftig vor sich hin, bevor das Schlagzeug ungestüm an die Tür klopft und, nach weiteren vier Takten, der Song mit einem infernalischen Lärm aus den Boxen mitten ins Zimmer gekotzt wird wie eine amoklaufende Riesenflex, die innerhalb kürzester Zeit die Bude komplett zerlegt. Und – große Güte! – ist das nicht eines der härtesten Gitarren-Riffs ever, das da über dem Gekreische und Geklirre und Geklopfe sowas ähnliches wie eine Melodie vortäuscht? Kaum ist das erste Gemetzel überstanden, knüppeln »The Missing« und »Deity« mit drastisch erhöhtem Pogo-Tempo alles nieder, was vom ersten Stück übriggelassen wurde … und zu all dem brüllt der Teufel mit einer Stimme, die er Lemmy direkt aus dem Hals gerissen zu haben schien.
Boah, war das damals ein Brett! Utrabrutaler Metal aus Maschinen – Waaahhhnsinn. Der Rest der A-Seite ist Füllmaterial, die B-Seite wieder ganz ordentlich und etwas zahmer, dafür marschmusikmäßiger, bis »Flashback« nochmal zeigt, wo der Hammer resp. Schlägel hängt. Als Mini-LP (ohne den Mist) mit nur sechs Stücken statt neun vermutlich gar nicht in ihrer hochkonzentrierten Absolutheit zu ertragen.
Leider hat Alain Jourgensen danach Ministry vollkommen auf die Rockerschiene gezwungen und mit »Jesus Built My Hotrod« ein paar Jahre später sogar einen echten Kuttenbrunzer-Hit gelandet. Wieviel Potenzial er an diese trübe Mackermucke verschwendete, wird mir immer wieder bewusst, wenn ich seine damaligen Nebenprojekte höre: Revolting Cocks (»Big Sexyland«, »Beers, Steers & Queers (The Album)«), Acid Horse (»No Name, No Slogan«) oder Lard (»The Power Of Lard«). Schade.
Aufmerksame Leser:innen haben den Trick bemerkt – »Twitch« ist eindeutig die bessere Platte und eine glasklare Empfehlung, auch heute noch. Den größeren Impact jedoch hatte »The Land Of Rape And Honey«, und mich letztlich vollständig vom Rockismus geheilt – danach konnte ich mich komplett auf die diversen elektronischen Klänge der 1990er einlassen und beispielsweise Grunge völlig ignorieren (nicht eine einzige Scheibe besitze ich davon, und vermisse auch bis heute nichts). Erst später, v.a. beim Stoner-Rock der späteren Queens Of The Stone Age (»…Like Clockwork«, 2013), bin ich wieder mal richtig schwach geworden.